„Meine Augen sehen stets auf den HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netz ziehen.“ So heißt es im Psalm 25. Nach diesen Worten hat der Sonntag „Okuli“ (meine Augen) seinen Namen.
Meine Augen – das ist nicht wörtlich, sondern bildlich zu verstehen.
Denn Gott, den HERRN, können wir mit unseren Augen nicht sehen.
Aber wir können unsere Gedanken auf Gott richten.
Ein Grundgefühl des Vertrauens ist möglich, dass ich in jeder Sekunde sagen kann: Ich weiß mich in Gott geborgen.
So sind meine inneren Augen stets auf Gott gerichtet.
Einer, der so geschildert wird, ist Hiob. Er hat stets auf den HERRN vertraut. Er hat ihn gelobt an guten Tagen. Selbst im tiefsten Leid hat er sich an Gott gewandt, ihm nicht nur sein Leid geklagt, sondern ihn sogar angeklagt. – Und Jesus? Von Jesus wird es ähnlich erzählt.
Im Garten Gethsemane ringt Jesus mit Gott. Mein Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir... Sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen. Während Jesu Augen bis zuletzt auf Gott gerichtet, sind schlafen die Jünger. Bei ihnen sind nicht nur die äußeren Augen zu, auch die inneren. Sie beten nicht mit Jesus, lassen ihn allein.
An dieser Stelle setzt der Predigttext für heute ein: Lk 22, 47-53:
Als er aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Liebe Gemeinde!
Die Geschichte von der Verhaftung Jesu ist Teil der Passionsgeschichte, zu der unbedingt die Ostergeschichte dazugehört. Doch unser Predigtwort behaftet uns heute ganz bei der Verhaftung Jesu. Wir sollen dabeibleiben. Nicht ausweichen. Das können wir im Leben ja auch nicht, wenn etwas über uns oder andere hereinbricht wie die Macht der Finsternis.
Bei Lukas sind es Mitglieder des Synedriums, des Hohen Rates, die die oberste jüdische Gerichtsbarkeit innehatten. Sie gehen gegen Jesus vor. Heimlich. Im Dunkel der Nacht. Nicht öffentlich im Tempel. Sie haben Angst, dass sich viele Menschen mit Jesus solidarisieren.
Ihr Ziel ist es, Jesus zu verurteilen und zur Todesstrafe an die Römer auszuliefern. Zu ihnen sagt Jesus: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Schauen wir hin, was in dieser Stunde der Gewalt und der Macht der Finsternis geschieht.
Es beginnt mit dem Verrat. Einer aus den eigenen Reihen verrät Jesus. Als Zeichen war ein Kuss vereinbart, zu dem es hier aber nicht kommt. Der Kuss war damals die alltägliche Begrüßungsform. Ein Kuss drückt Nähe, Verbundenheit und Zärtlichkeit aus. Das Allermenschlichste wird hintertrieben und als hinterlistige Geste missbraucht.
Leider ist das bis heute eine abscheuliche Masche, dass zärtliche Berührungen in Gewalt verkehrt werden.
Da küssen sich skrupellose Herrscher auf die Wange, obwohl sie schon längst Krieg geplant haben oder sich im Krieg befinden.
Da gelingt es Heiratsschwindlern einen anderen Menschen um den Finger zu wickeln, um sich auf unredliche Weise zu bereichern.
Da überschreiten Erwachsene bei Kindern Grenzen, gaukeln Liebe und Zärtlichkeit vor und zerstören dann auf brutalste Weise die Seelen und Körper wehrloser Kinder.
Der Judaskuss sorgt bis heute immer wieder für Schlagzeilen.
Verraten wird dabei der Mensch, das menschliche Urvertrauen, das menschliche Miteinander.
Jesus durchschaut Judas von Anfang an. Es kommt nicht zum Kuss. Denn Jesus konfrontiert ihn mit seiner Hinterlist: „Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?" Die Freunde Jesu erkennen, was sich da zusammenbraut. Aus Wut über den Verrat und Angst vor einer Verhaftung greifen sie zu den Waffen und wollen Widerstand leisten.
Sie fragen Jesus: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?
Noch bevor Jesus antworten kann, schlägt einer bereits zu und trifft genau das rechte Ohr vom Knecht des Hohenpriesters. Das Ohr ist ab. Von weiteren Kampfhandlungen wird merkwürdigerweise nichts berichtet. Man würde erwarten, dass jetzt ein furchtbares Gemetzel mit Schwertern und Stangen ausbricht. Aber nein. Jesus schreit nicht, er spricht in großer Gefasstheit: "Lasst ab! Nicht weiter!" Keine Gewalt! Schreit nicht rum! Seht! Hört! Und dann richtet die Erzählung unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Heilung. Man ist beim Zuhören ganz irritiert, dass Jesus und die Heilung des Ohres so stark in den Mittelpunkt gerückt wird. Zum einen würde man erwarten, dass nach dem Schwerthieb die Kampfhandlungen erst richtig losgehen. Zum anderen wirkt die Heilung des Ohres sonderbar - denn man tut sich doch etwas schwer mit der Vorstellung, wie denn das Ohr so schnell anwachsen soll.
Unter den Evangelisten berichtet nur Lukas von dieser Heilung.
Soll damit die Unschuld Jesu und seine friedliche Gesinnung zum Ausdruck kommen?
Oder hat es mit dem Ohr eine tiefere Bedeutung? Soll der Knecht, sollen wir recht hinhören, was Jesus da tut und sagt und wie es weitergeht?
Deutlich ist dies: Jesus bleibt bei dem ganzen Tumult der Herr des Geschehens.
Er beendet die Spirale der Gewalt.
Er verhindert eine Eskalation durch seine Autorität.
Er behält das Sagen, auch wenn am Ende verhaftet wird.
Während die andere Seite auf Macht und Gewalt setzt und mit Schwertern und Stangen ("Xylon", Holz) vorgeht, setzt Jesus auf Gewaltlosigkeit.
Ohne Ostern und ohne die Erzählungen von seiner Auferweckung wäre das Schicksal Jesu im Verborgenen geblieben wie unzählige andere Schicksale von Menschen, die verhaftet, gefoltert und skrupellos aus dem Weg geräumt wurden und werden.
Weil der Stunde der Häscher und der Macht der Finsternis
Ostern folgte, ist diese Geschichte ins Licht gerückt.
Am 19. Februar 2020 gab es in Hanau einen rassistischen Anschlag, bei dem neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wurden. Daraufhin entstand die deutschlandweite Kampagne:
#SayTheirNames – „Nenne ihre Namen“.
Die Namen der Ermordeten sollen nicht vergessen werden.
Die Kampagne will bewusstmachen: Rassismus tötet.
Wir erleben derzeit, wie das Regime im Iran Kritiker verhaftet, einsperrt und zum Tod verurteilt.
Navid Kermani hat in diesem Zusammenhang unterstrichen, wie wichtig es ist, die staatliche Gewalt im Iran öffentlich zu machen und die Namen der zum Tode Verurteilten zu nennen.
Mediale Aufmerksamkeit baut einen Schutzraum.
Das Herstellen von Öffentlichkeit kann zu einem Umdenken führen.
Drohende Gerichtsprozesse bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeigen den Mächtigen und ihren Handlangern, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden und überlegen sollen, was sie tun.
Es soll nicht ihre Stunde bleiben. Die Macht der Finsternis ist begrenzt.
Jesus hat in diesen schweren Stunden stets auf den HERRN gesehen.
Er hat auf den gehofft, der seinen Fuß aus dem Netz ziehen kann.
Manchmal erleben auch wir solch dunkle Stunden, wo eine finstere Macht gegen uns arbeitet. Ob wir dann mit diesen Worten beten können: Meine Augen sehen stets auf den HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netz ziehen.?
Und der Friede Gottes, der alles menschliche Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und Gedanken bewahren in der Gemeinschaft mit Jesus Christus.