Predigt zum Sonntag Judika, 21.3.2021

Hier als PDF.  Liebe Gemeinde!

Ein 60jähriger Mann hat seine Frau mit Corona angesteckt. Er ist ein vorsichtiger Mensch. Wie er sich infiziert hat, weiß er nicht. Sie kommen in verschiedene Krankenhäuser. Die Frau hat keine Vorerkrankungen. Dennoch stirbt sie. Sie und ihr Mann haben sich nicht noch einmal gesehen.

Immer wieder geschehen solche Dinge: Menschen verlieren vieles, manchmal sogar alles. Bei einem Wohnungsbrand. Bei einem Autounfall. Durch Krieg. Auf der Flucht. Durch Krankheit.

Menschen geraten in Not, in großes Leid.

In einem Buch der Bibel wird dieser Erfahrung besonders intensiv nachgegangen. Im Buch Hiob. Hiob steht für den leidgeprüften Menschen.

Im März 2021 ist uns Hiob nah. Er oder sie leben in der Nachbarschaft. Noch mehr in anderen Teilen der Welt. Es ist so ungerecht: Die Pandemie trifft die besonders hart, die schon viel verloren haben.

Unsere Landessynode tagt in der kommenden Woche. Es wird nicht nur um den Landesstellenplan gehen. Auf der Tagesordnung steht auch die Frage, was die Pandemie mit uns macht, was sie mit unserem Glauben macht, welche Fragen sich uns stellen. So vieles ist aus den Fugen geraten. Manche Branchen liegen am Boden. Auch kirchliches Leben ist stark eingeschränkt.

Hiob ist und bleibt aktuell. Ich lese aus der Basisbibel Hiob 19, 19-27:

19Meine engsten Freunde verabscheuen mich.

Sogar diejenigen, die mir am liebsten sind,

stehen mir feindselig gegenüber.

20Meine Haut klebt nur noch an den Knochen.

Nur das nackte Leben ist mir noch geblieben.

21Habt Mitleid, habt Mitleid mit mir,

ihr seid doch meine Freunde!

Denn Gott hat mich mit diesem Unglück geschlagen.

22Warum verfolgt ihr mich, wie Gott es tut?

Wann hört ihr endlich auf, mich zu zerfleischen?

23Ach, wie wünsche ich mir,

dass meine Verteidigungsrede aufgeschrieben wird –

wie bei einer Inschrift, die man in den Stein ritzt!

24Mit einem Meißel soll man sie in den Fels hauen

und ihre Buchstaben mit Blei ausgießen.

25Ich weiß ja doch, dass mein Erlöser lebt.

Als mein Anwalt wird er auf der Erde auftreten

und zum Schluss meine Unschuld beweisen.

26Mit zerfetzter Haut stehe ich hier.

Abgemagert bin ich bis auf die Knochen.

Trotzdem werde ich Gott sehen.

27Ich werde ihn mit meinen Augen sehen,

und er wird für mich kein Fremder sein.

So wird es sein, auch wenn ich schon halb tot bin.

 

Liebe Gemeinde! Das Hiobbuch versucht die quälende Frage zu durchdringen, warum Gott großes Leid nicht verhindert. Selbst die Anständigen, die Gläubigen, die sozial Engagierten bleiben nicht verschont. Hiob steht ja für die Guten, für die Frommen, die ein großes Herz für andere haben. Doch ihr Engagement für das Gemeinwesen zahlt sich nicht aus. Darum ist das Gerechtigkeitsempfinden zutiefst verletzt. Dem Guten geht es schlecht. Dagegen geht es den Rücksichtslosen und Skrupellosen gut. Warum greift Gott da nicht ein?

Hiob hat Freunde. Zunächst halten sie bei ihm aus, leiden mit ihm. Doch dann distanzieren sie sich von ihm, unterstellen ihm, dass er etwas Böses getan habe, sonst würde er ja nicht dafür bestraft. Sie halten an dem Denken fest, dass das Tun Folgen hat. Und wenn Hiob leiden muss, dann muss er für etwas büßen, was er verbrochen hat. Doch Hiob ist sich keiner Schuld bewusst. Darum macht er letztlich Gott selbst für sein Leid verantwortlich: „Gottes Hand hat mich getroffen“ / „Gott hat mich mit diesem Unglück geschlagen“.

Wenn ich heute über Leiderfahrungen spreche, muss ich an meine Mutter denken. Sterben ist nicht schön. Es steht uns allen bevor. Nur, dass wir nicht wissen, wie es bei uns sein wird. Was ich im Hiobbuch lese, habe ich in ähnlicher Weise bei meiner Mutter erlebt. Als die Schmerzen ihr zusetzten, hat sie lange gestöhnt und gejammert. „Auweh!“ „So was na.“ „Ach, lieber Gott!“ Hilflos standen wir manchmal neben ihrem Bett und wussten nicht, was wir tun können. Sterben ist nicht schön.

Trotzdem hab‘ ich es so empfunden, dass meine Mutter bei allem Klagen an Gott festgehalten hat. „Ach, lieber Gott!“ Sie hat sich an Gott gewandt, bewusst oder unbewusst. Sie hat nicht an seiner Existenz gezweifelt. Sie hat das Gebet und das Singen von Gesangbuchliedern nicht abgelehnt, vielmehr hat sie immer wieder mit eingestimmt, hat sich tragen lassen.

Von Hiob wird es ähnlich erzählt.

Hiob stellt die Existenz Gottes nicht in Frage. Indem er an Gott festhält, erkennt er keine anderen Mächte an, weder Schicksalsmächte, noch Dämonen. Er setzt sich mit Gott auseinander. Er wendet sich an Gott, weil er dessen Wege nicht versteht, weil er seine Nähe nicht mehr spüren kann. Er führt Klage gegen Gott, er wirft ihm seine Wut, seine Enttäuschung vor die Füße.

Indem er mit Gott hadert, lässt er Gott nicht los.

Hiob gibt Gott nicht auf. Er wendet sich gegen Gott und somit an Gott. Er zieht seine Lebenskraft aus dieser Auseinandersetzung mit Gott.

Er ist sich sicher, dass er im Recht ist.

Darum bittet er seine Freunde inständig die Seite zu wechseln.

Sie sollen nicht Gott verteidigen, sie sollen mit ihm Gott anklagen.

Er fühlt sich zu Unrecht mit Leid geschlagen.

Das will er am liebsten schriftlich festhalten, damit auch Spätere noch feststellen können, dass er nichts Falsches gemacht hat und dass er unschuldig leiden musste. Ja, er vertraut darauf, dass selbst Gott als sein Erlöser und Fürsprecher ihm zuletzt Recht geben wird – gegen seine Freunde, die an seiner Schuld festhalten. Judica heißt dieser Sonntag: Gott, schaffe mir Recht! Darum geht es Hiob und allen, die zu Unrecht schlecht und klein gemacht werden.

Liebe Gemeinde!

Es ist Passionszeit. Wenn wir als Christen über Hiob nachdenken, stellen wir auch Parallelen zu Jesus fest. Jesus leidet unschuldig wie die literarische Gestalt des Hiob. Jesus hat wie Hiob ganz auf Gott vertraut.

„Der erlöse ihn nun!“, sagen seine Widersacher spöttisch. Ohne Mitgefühl stoßen sie Jesus noch tiefer ins Leid.

Wie Hiob sich von seinen Freunden verraten und im Stich gelassen fühlte, so wird es von Jesus erzählt. Wie Hiob Gott anklagt, so klagt Jesus am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Jesus teilt das ohnmächtige Seufzen aller Menschen. Jesus erlebt die Todesangst, die auch uns mitunter überkommt. „Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Doch mitten im Klagen gibt es bei Jesus einen Umschwung. Er kann schließlich beten: „Nicht mein, dein Wille geschehe.“ Gott segnet die, die mit ihm kämpfen. Gott gibt Kraft denen, die an ihm festhalten und sei es in der Klage.

Hiob wünschte sich, dass seine Rede aufgeschrieben wird. Sie wurde aufgeschrieben. Auch die Klage Jesu wurde aufgeschrieben. Die Frage nach dem Leid ist aufs engste mit Gott verknüpft. Sie darf Gott gestellt werden. Eine rationale Antwort wird es nicht geben. Das haben die Verfasser des Hiobbuches bereits festgehalten. Aber Gott kann neu erfahren werden als der, der letztlich stärker ist als das Leid, stärker als Menschen, Gewalten, Seuchen oder andere Mächte.

Von Ostern her können und dürfen wir als Christen den Satz aus dem Hiobbuch noch einmal ganz anders hören, verstehen und bekennen:
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Gott schenke uns die Kraft und die Hoffnung, dass wir auch in Zeiten der Niederlage, des Zweifels, des Leids sagen und daran festhalten können: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Georg Friedrich Händel hat im Messias diese Worte in einer Arie wunderbar vertont. Nach dem kraftvollen Halleluja erklingt diese unendlich vertrauensvolle Arie: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.

Von ihm sagt Paulus: Wer will verdammen? Christus ist hier, unser Anwalt und Fürsprecher, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Amen! So ist es.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Psalm 43 nach der Basisbibel (vgl. die Vertonung von Mendelssohn "Richte mich Gott")

1 Verhilf mir zu meinem Recht, Gott!

Vertritt mich vor Gericht gegen das Volk,

das sich nicht an deine Gebote hält!

Rette mich vor falschen und bösen Menschen!

2Denn du bist der Gott, der meine Zuflucht ist!

Warum hast du mich verstoßen?

Warum muss ich so traurig durchs Leben gehen,

bedrängt von meinem Feind?

3Sende dein Licht und deine Wahrheit!

Sie sollen mich sicher führen.

Sie sollen mich zu dem Berg bringen,

wo dein Heiligtum ist – deine Wohnung.

4Dann will ich vor den Altar Gottes treten,

vor Gott, der mich mit Jubel und Freude erfüllt.

Zur Musik der Leier will ich dir danken,

Gott, du mein Gott.

5Was bist du so bedrückt, meine Seele?

Warum bist du so aufgewühlt?

Halte doch Ausschau nach Gott!

Denn bald werde ich ihm wieder danken.

Wenn ich nur sein Angesicht schaue,

hat mir mein Gott schon geholfen.

 

Der HERR segne und behüte Sie,

der HERR, dessen Name ist: Ich bin da!

Gehen und leben Sie mit Gott!

Ihr Pfarrer Hans Gernert