Heute ist der 9. November 2025. Genau 87 Jahre ist es her, da wurden von den Nazis in ganz Deutschland über 1400 Gotteshäuser der Juden zerstört und abgebrannt. Geschäfte und Wohnhäuser der Juden wurden demoliert und ausgeraubt und niemand wurde dafür bestraft, weil die Verbrechen vom Staat, einem Unrechtsstaat, angezettelt wurden.
Im Psalm 74,8 steht: „Sie sprechen in ihrem Herzen: Lasst uns sie ganz unterdrücken! Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande.“ Dietrich Bonhoeffer schrieb kurz nach dem Progrom 1938 neben diese Stelle das Datum: 9. November 1938.
1940 hat Friedrich Stutrucker die beiden jüdischen Friedhöfe in Rehweiler gekauft. Als Verkäufer fungierte einer der letzten Juden aus Wiesenbronn, der Kaufmann Simon Fröhlich. Der Kaufpreis von 90 Mark war nicht hoch. Doch Herr Fröhlich soll dazu einen weiteren Betrag erhalten haben, damit er fliehen konnte. Mehr wusste ich bislang nicht. Ich habe mich schon öfter gefragt, was aus Herrn Fröhlich und seiner Familie geworden ist. Von Reinhard Hüßner aus Wiesenbronn erfuhr ich, dass Herr Fröhlich und seine Frau nicht mehr fliehen konnten vor den Nazis. Aber ihr Sohn Jakob hat es als 13-Jähriger nach Palästina geschafft.
Jakob (Heinz) Fröhlich ist am 15. Juli 1926 in Wiesenbronn geboren.
1985, vor 40 Jahren, hat er seine persönlichen Erinnerungen an die Reichspogromnacht aufgeschrieben. Sie lassen die Vorgänge von damals auf eindrückliche und mahnende Weise lebendig werden.
Von 1933 bis Juli 1938 besuchte ich als einziges Judenkind die Volksschule in Wiesenbronn. Bis zur Vollendung des 4. Schuljahres war die eine Selbstverständlichkeit. Mutter und Großmutter und wahrscheinlich auch alle Vorahnen, welche seit Generationen in Wiesenbronn lebten, hatten dieselbe Schule besucht und mit ihren christlichen Schulkameraden auf dem Schulhof gespielt.
Vom Religionsunterricht war ich befreit, ebenso vom „Deutschen Gruß“. Am Samstag (Schabbath) besuchte ich den Unterricht und hörte zu, vom Schreiben war ich befreit. Nach Abschluss der 4. Klasse sollte ich eigentlich in eine Mittelschule kommen. Die nahegelegene Realschule im Bezirksstädtchen Kitzingen a.M. verweigerte im Jahre 1937/38 die Aufnahme von Judenkindern. Jüdische Realschulen gab es nur in den Großstädten. Diese waren weit entfernt. Meinen Eltern fiel es schwer, mich – als einzige Kind – 11 Jahre alt, in die Ferne zu schicken, zumal sie damals bereits der Gedanke der eventuellen Auswanderung beschäftigte.
Im Juni 1938 wurde ich aus der Volksschule in Wiesenbronn ausgewiesen. Meine Eltern wurden zum Schulleiter bestellt und bekamen kurz mitgeteilt, dass ich kurzfristig die Schule zu verlassen habe.
Die nächste jüdische Volksschule war in Würzburg. Die einzelnen Klassen waren in dieser Schule im Jahre 1938 bereits sehr zusammengeschmolzen, nachdem viele Schüler mit ihren Eltern ausgewandert waren. Die Lücken auf den leeren Schulbänken wurden jedoch von neuen Schülern ausgefüllt, welche unter denselben Umständen wie ich von den ländlichen Schulen in die Stadt kamen.
Würzburg ist von Wiesenbronn rund 30 km entfernt, die Verbindung schlecht, so musste für mich dort bei einer jüdischen Familie mit koscherem Haushalt eine Unterkunft gesucht werden. Diese fand sich bei der Familie Ansbacher. Zusätzlich fand ich in diesem Haus eine warme und streng religiöse Atmosphäre. Ich lebte mich rasch ein und fühlte mich wohl bei meinen Gastgebern.
Der 9. November 1938 und die folgenden Ereignisse überraschten mich vollkommen. Von den Ereignissen nach Paris bzw. dem Attentat auf den dortigen deutschen Botschaftsrat wusste ich nicht das Geringste.
Gegen Mitternacht vom 9. auf den 10. November wurden wir durch heftiges Klopfen an der Wohnungstür ganz plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Drei Männer, zwei von ihnen uniformiert, drangen in die Wohnung ein. Ohne viele Erklärungen wurde die ganze Wohnung durchwühlt. Die volljährigen Männer: Vater Ansbacher, sein 18jähriger Sohn (damals Seminarist) und ein schwerbehinderter alter Mann, wurden verhaftet. Letzterer war taubstumm und durch die Unruhe im Haus vollkommen verstört. Dies hinderte die Eindringlinge nicht, sich ihm gegenüber besonders grob zu benehmen. Über sein Gebrechen machten sie sich lustig. Die Männer wurden abgeführt. So verblieben wir drei Jungens im Alter von 12 Jahren mit Mutter Ansbacher allein in der Wohnung.
Die Aufregung ließ uns nicht schlafen. Wir versammelten uns im Wohnzimmer neben der Thorarolle, die dort aufbewahrt war, und lasen Tehilim (Psalmen). Hier fühlten wir uns geborgen und hofften, von weiterem Bösen verschont zu bleiben.
In den frühen Morgenstunden erfuhren wir, dass die Synagoge und die Schule zerstört waren, und dass vorerst kein Unterricht stattfinden könne. Obwohl alle Anwesenden abrieten, entschloss ich mich, auf schnellstem Weg nach Hause zu meinen Eltern zu kommen. Ich verließ das Haus und erreichte den Bahnhof. Unterwegs – überall eingeschlagene Schaufenster und ausgeplünderte Geschäfte. Ich konnte gar nicht fassen, dass es so viele jüdische Läden in der Stadt gab.
Mit dem Eilzug erreichte ich das Bezirksstädtchen Kitzingen. Dort konnte ich nach kurzem Aufenthalt in den Personenzug nach Kleinlangheim umsteigen. Ich suchte mir eine stille Ecke im Wagen des Zuges. Die Stille konnte ich nur einige Minuten genießen. Plötzlich scharte sich um mich eine Gruppe von ungefähr 15 Schülern, die mich als Judenkind erkannten und sich wie eine Horde wilder Tiere auf ihre Beute stürzten.
Es waren Schüler der örtlichen Realschule, welche anlässlich der Ereignisse an diesem Tag vom Unterricht befreit waren. Wahrscheinlich hatten ihnen ihre Lehrer auch bestimmte Aufträge und Pflichten auferlegt. So war ihnen als erstes das Durchsuchen meines Schulranzens geboten. Dabei fanden sie mehrere Bücher und Hefte mit hebräischen Schriftzeichen, die sie teils zerrissen und danach durchs Fenster ins Freie warfen.
Daraufhin versuchten diese Burschen, sie waren einige Jahre älter als ich, mich auf die offene Plattform des Waggons zu zerren und drohten, mich „über Bord“ zu werfen. Ich widersetzte mich diesem Vorhaben mit Erfolg, bis schließlich ein Schaffner erschien, der die Jungen zurechtwies und damit für Ordnung sorgte. So erreichte ich unversehrt Kleinlangheim, die Bahnstation von Wiesenbronn.
Das Dorf zu durchqueren getraute ich mich nicht. Ich bevorzugte einen Feldweg am Rande des Dorfes. Hier war es ruhig. Über der dortigen Synagoge lag eine dunkle Rauchwolke. Ein Bauer, der gerade aus seinem Acker Rüben erntete, erzählte mir, dass die Synagoge und mehrere Judenhäuser zerstört worden seien. Gleichzeitig gab er mir den guten Rat, so schnell wie möglich mein Elternhaus zu erreichen.
Nachdem ich das Dorf umgangen hatte, kehrte ich auf die Landstraße zurück, welche die beiden Dörfer verbindet. Nach etwa 1,5 km auf dem Sträßchen in Richtung Wiesenbronn sah ich in der Ferne unseren kurz zuvor gekauften Opel P 4 erscheinen. Ich, völlig überrascht, jauchzte vor Freude, in der Meinung, hier komme der Vater, um mich von der Bahn abzuholen. Das Auto näherte sich und damit die große Enttäuschung – vielleicht die größte meines Lebens. Am Steuer saß nicht der ersehnte Vater, sondern ein schwarz uniformierter SS-Mann; neben ihm noch zwei Kollegen. Wie ich nachträglich erfuhr, war der Wagen in den frühen Morgenstunden dieses Tages beschlagnahmt und zum Abtransport von jüdischen Männern ins Gefängnis benutzt worden. Als erster war mein Vater selbst verhaftet worden.
Nun dränge es mich noch mehr, so schnell wie möglich das Elternhaus zu erreichen. Nach zehnminütigem Dauerlauf fiel ich in die Arme meiner Mutter. Sie hatte mich bereits erwartet.
Im Haus war auch der 82jährige Großvater verblieben. Nachdem in der Nazizeit einige Familien ausgewandert bzw. weggezogen waren, gab es im Dorf (Wiesenbronn) damals nur noch drei jüdische Familien. Die Familienväter waren bereits verhaftet. So verblieben ich und mein Großvater als einzige „Männer“ in der jüdischen Gemeinde.
Der Großvater war alt und gebrechlich. So wurde es meine Aufgabe, gemäß dem bekannten Spruch aus den Sprüchen der Väter: „Wo kein Mann ist, sei du der Mann!“ Gerne übernahm ich diese aus der Not entstandene Pflicht, machte alle Besorgungen und sorgte für den Kontakt zwischen den Familien. Ich bewegte mich flink auf schmalen Pfaden zwischen den einzelnen Bauernhöfen. Die Hauptstraße habe ich gemieden.
Am späten Nachmittag erschienen gruppenweise Horden von SA- und SS-Leuten aus den Nachbardörfern. Sie sollten ihrem Groll und Hass Ausdruck geben und dabei die Synagoge und anderen jüdischen Besitz vernichten. Zu ihrer großen Enttäuschung waren damals fast alle jüdischen Anwesen bereits an Arier verkauft. Die neuen Besitzer sorgten dafür, dass an ihrem Eigentum kein Schaden angerichtet wurde. So richtete sich die ganze Aktion gegen ein Haus, das noch in jüdischem Besitz war. Hier wurden Fenster und Türen eingeschlagen und ein Teil des Hausrates durch die Fenster auf die Straße geworfen. Dieses Haus lag meinem Elternhaus gegenüber. Wir konnten das Treiben derer, die sich wie Vandalen gebärdeten, gut beobachten.
Unser Haus blieb unversehrt, das – wie bereits erwähnt – verkauft war. Trotzdem konnte der Besitzer mehreren Eindringlingen das Betreten des Hauses nicht verwehren. Unter dem Vorwand, es wäre ihre Pflicht, die Wohnung zu durchsuchen, wurde der ganze Hausrat aufgestöbert und durchwühlt. Viele Wertgegenstände sind bei dieser Haussuchung abhandengekommen.
So verging der 10 November 1938. Am nächsten Abend gab es noch ein Nachspiel. Unser jüdischer Nachbar K. wurde, wahrscheinlich aus Gesundheits- oder Altersgründen, aus der Haft entlassen und kam am späten Nachmittag zurück. Mit dieser Tatsache wollten sich die Raudis, welche sich noch im Dorf herumtrieben, nicht abfinden. Sie waren anscheinend unbefriedigt geblieben; ihre bösen Triebe und ihr Zorn mussten noch gelöscht werden. Wiederholt versuchten sie, das Haus zu stürmen, um den Nachbarn zu fassen und entsprechend zu behandeln. Dies gelang ihnen jedoch nicht. Der Nachbar hatte die Türen seines Hauses fest verriegelt und zusätzlich von innen mit Möbeln und anderen Gegenständen versperrt.
Es war inzwischen spät am Abend geworden, die Nachbarn wollten ihre Ruhe haben, die Aktion Kristallnacht 10. November war bereits abgeblasen, und irgendjemand – wahrscheinlich ein Gendarm – zwang die Horde zum Abzug. Ganz ohne vollendete Tat waren sie nicht bereit, den Tag zu beenden. Ungefähr 50 Meter von unserem Haus entfernt, neben einer Wirtschaft, wurde ein Galgen schnellstens aufgestellt. Eine Puppe in Form einer Stürmerfigur, mit Stroh ausgestopft, wurde aufgehängt und anschließend verbrannt.
Erst spät in der Nacht gab es Ruhe. Vom dunklen Zimmer aus beobachteten ich und meine Mutter dieses makabre Spiel. Ich erinnere mich heute noch, wie sich die Flammen der brennenden Puppe im Fensterglas unserer Wohnung spiegelten.
In den folgenden Wochen bis zur Freilassung meines Vaters aus dem KZ Dachau blieb ich zu Hause, um meiner Mutter beizustehen. Ich machte alle Besorgungen, auch für die anderen jüdischen Familien im Dorf. Besuche machte meine Mutter mit mir bei diesen Familien nur abends bei Dunkelheit.
So besuchten wir eines Abends Anfang Dezember die Familie Heippert. Der Familienvater war ebenso wie mein Vater in Dachau. Zu Hause verblieben waren drei Frauen, alle drei sehr hilflos. Die Großmutter war über 80; Frau H, die Mutter, war herz- und zuckerkrank, und die Tochter war ein junges Mädchen von 16-17 Jahren. Meine Mutter und ich wollten die drei armseligen Personen etwas von ihrer Not ablenken und ihnen mit Rat und Tat beistehen. Da klingelt ganz grell – so habe ich es noch heute in Erinnerung – das Telefon. Frau Heippert hebt den Hörer ab, darauf ein tiefes Stöhnen, sie fällt in Ohnmacht.
Meine Mutter und Frau Heipperts Tochter versuchen, die Ohnmächtige auf die Beine zu bringen. Meine Mutter übernimmt das Telefongespräch. Am anderen Ende der Leitung ist die Gendarmerie Kleinlangheim. Der Beamte übermittelt ganz kurz und lakonisch die traurige Mitteilung: Der Jude Heippert – der Familienvater – sei gestern im Konzentrationslager verschieden. Die Leiche solle am folgenden Tag an der Bahnstation Kleinlangheim übernommen werden. Gleichzeitig seien bei Übernahme die Kosten für den Transport und den Bleisarg zu begleichen.
Frau H. kam langsam wieder zu sich. Meine Mutter fiel es schwer, ihr die eben empfangene Hiobsbotschaft zu übermitteln. Ich selbst war diesmal zum ersten Mal schwer geschlagen und völlig zerstört. Es war die ernste Sorge um den Vater, der damals noch in Dachau war, und die Trauer um Herrn Heippert, den ich sehr gern hatte. –
Mein Vater kam 14 Tage nach der Beerdigung von Herrn (Sally) Heippert von Dachau zurück. Es war Ende Dezember 1938, am Tag des 6. Chanukka-Lichts. Er berichtete uns über den grausamen Tod seines Freundes Heippert. Dieser war an einer schweren Lungenentzündung erkrankt. Trotz hohem Fieber über 40 Grad musste er zum täglichen Appell erscheinen. Die Kleidung bestand aus einem Häftlingsanzug und Holzschuhen ohne Socken. Es lag hoher Schnee, die Temperatur war 18 Grad minus. Der Appell dauerte diesmal wegen des Fehlens eines Häftlings über 12 Stunden. Der Schwerkranke war dieser Strapaze nicht gewachsen. Erst nach 10stündiger Tortur kam für ihn die Erlösung; er fiel tot in den Schnee.
Für unsere Familie folgten noch schwere Zeiten. Wir mussten unsere Wohnung im eigenen Haus auf Befehl des Ortsgruppenführers fristlos räumen. Als Unterkunft wurde uns das örtliche Armenhaus zugewiesen. Dasselbe war jahrelang nicht bewohnt und im Winter als Schafstall benutzt worden.
Ich wohnte in dieser Behausung bis Ende 1939, bis zu meiner Auswanderung nach dem damaligen Palästina. Meine Eltern wohnten dort noch bis Sommer 1940.
(EINSCHUB: Den Verkauf der jüdischen Friedhöfe Rehweiler an Herrn Strutrucker nahm Simon Israel Fröhlich am 19. August 1940 beim Notar in Gerolzhofen vor.)
Danach konnten sie nach langen Bemühungen zur Großmutter nach Rexingen ziehen (woher mein Vater Simon Fröhlich stammte).
1941 wurden meine Eltern aus Rexingen nach Polen verschickt. Meine Mutter Martha wurde gleich nach der Ankunft im Lager im Rahmen einer Selektion mit mehreren jüdischen Frauen von einem Kommando erschossen. Mein Vater lebte bis Ende 1944 in Ghetto Riga und ist dort verschollen.
Seit Januar 1940 lebe ich in Shavej Zion (einem von Juden aus Rexingen seit 1938 gegründeten Dorf an der Mittelmeerküste nahe von Akko. Der Name bedeutet: Rückkehr nach Zion). Hier fand ich meine neue Heimat und hier habe ich meine Familie gegründet. Hier sind unsere drei Töchter geboren, von denen bereits zwei verheiratet sind. Ihnen fehlten Großvater und Großmutter von väterlicher Seite.
Inzwischen sind wir bereits Großeltern und haben viel Freude an unserem ersten Enkelkind. Auch ihr fehlt leider ein Großvater. Ihr Vater, also unser Schwiegersohn, ist Kriegswaise. Sein Vater überlebte Auschwitz, kam nach dem Krieg nach Israel und wurde als Pilot ausgebildet. Im Sinaifeldzug 1956 wurde sein Flugzeug am Suezkanal von einem ägyptischen Geschoss getroffen. Er musste abspringen und wurde von Ägyptern am Erdboden ermordet.
Wir sehnen uns nach einem friedlichen Zusammensein, wo Kinder und Kindeskinder geborgen aufwachsen können. Die Wunden aus der schweren Zeit sind geheilt. Es verblieben jedoch tiefe Narben.
Dies schrieb Jakob Fröhlich im Alter von 59 Jahren im Jahr 1985.