"Gott ist das Nahe in der Nähe"

7. Sonntag nach Trinitatis, 26.7.2020, Ebersbrunn (hier als PDF)

Haben Sie schon einmal über die Erfahrung von Nähe nachgedacht?

Nähe ist das, was nicht weg ist, was nicht entfernt ist.

Nähe ist das Gegenteil von Distanz.

Verliebte suchen Nähe, wollen sich nahe sein, wollen sich spüren mit Haut und Haar, aber auch mit dem Inneren, mit dem Herzen.

Nähe ist eine Erfahrung, die jeder Mensch zum Leben braucht.

Wir brauchen die Erfahrung, dass Menschen uns nahestehen.

Es tut uns gut, wenn wir Menschen haben, an die wir uns wenden können, die uns verbunden sind, die Zeit und ein offenes Ohr für uns haben, denen wir ganz und gar vertrauen können.

In diesen Monaten, wo Abstandhalten das Gebot der Stunde ist, bleibt dennoch das Bedürfnis nach Nähe. Telefon und soziale Medien sind eine Hilfe. Doch wir sehnen uns auch nach sichtbarer Nähe. Telefon- und Videokonferenzen sind hilfreich, können Zeit und Anfahrtswege sparen, aber auf Dauer können sie den Persönlichen Kontakt nicht ersetzen.

Eine gesunde zwischenmenschliche Beziehung lebt von einem guten Wechselspiel von Nähe und Distanz. In einer guten Beziehung wird der andere nicht vereinnahmt, sondern als eigenständige Persönlichkeit geachtet. Da bleibt die Erfahrung der Fremdheit, der Andersartigkeit, je besser man sich kennenlernt. Die intensivste Form von Nähe ist die Erfahrung: Die Fremdheit steigt sogar, je besser ich den anderen kennenlerne. So ist das bei Gott. Je näher ist ihm komme, desto fremder wird er mir. Er bleibt ein Geheimnis. Er geht nicht auf in mir, in meinem Denken, in meiner Vorstellung, in meinem Fühlen. Gott ist der ganz andere. Als der Fremde ist er mir ganz nah, näher als ich mir selber bin. Gottes Bereich ist die Nähe. Das Himmelreich ist nahe (herbeigekommen). Oder um es mit katholischen Theologen Elmar Gruber zu sagen: Gott ist das Nahe in der Nähe. Gotteserfahrungen hängen mit Erfahrungen von Nähe zusammen. Und Erfahrungen der Nähe sind geheimnisvolle Erfahrungen. Das Nahe in der Nähe ereignet sich ohne mein Zutun. Es ist Gnade, Geschenk von Gott.

Gott Nähe raubt mir nicht die Freiheit. Im Gegenteil. Die Erfahrung der Nähe Gottes führt nicht in eine Abhängigkeit, sondern befreit mich zu mir selbst und öffnet mich für das Leben. Narzissmus, Selbstbezogenheit und Selbstverliebtheit werden überwunden.

Ich schiebe noch einen Gedanken ein. Sie haben sicher schon einmal etwas von Lovebombing gehört. Es tut natürlich gut, einem anderen Menschen Komplimente zu machen, ihm die eigene Liebe zu zeigen. Wenn das alles ehrlich gemeint ist, ohne Hintergedanken und böse Absichten, wenn man dem anderen seine Freiheit lässt, ist das in Ordnung.

Doch es gibt auch Fälle, wo Menschen die Sehnsüchte und Gefühle anderer manipulieren und missbrauchen. Da überschüttet ein Lovebomber am Anfang seine nichtsahnende Freundin mit viel Aufmerksamkeit, Zuneigung und falschen Versprechungen. Wenn die Freundin dann aber nicht so spurt, wie er will, wird sie mit Liebesentzug und Abwertungen bestraft. Es kommt zu einem Hin- und Herpendeln zwischen Angehimmelt-Werden und Abgewertet-Werden. 

Doch ein solches Verhalten ist keine echte Liebe, nach der man sich sehnt, sondern emotionaler Missbrauch.

In diesem Sinn ist Gott kein Lovebomber. Er ist nicht darauf aus, uns anzuketten. Er führt uns ins Weite. Er führt uns heraus aus dem engen Haus unserer Selbstgefälligkeit, unserer Gleichgültigkeit, unserer Lieblosigkeit. Er macht uns frei zu lieben und das Leben zu achten, das eigene und das fremde.

Gott ist das Nahe in der Nähe. Wenn ich Nähe erlebe, die mir gut tut, die mich bereichert, die mich fördert, dann ist da Gott mit im Spiel als das Nahe, das mich angeht, das mich berührt, das mich erfüllt und öffnet. Gott ist das Nahe in der Nähe. Gott ist kein Typ, der mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitet, der einmal sagt, „Ich liebe dich“ und das nächste Mal: „Du taugst nichts.“ Nein. Er liebt ohne Bedingungen zu stellen. Das kann nur er in dieser Form.

  Unser Predigttext Hebr. 13, 1-3 spricht drei Bereiche an, in denen sich Gottes lebensfördernde Nähe auswirkt:

- Das Miteinander in der Gemeinde.

- Der Umgang mit Gästen, mit Fremden.

- Und das Mitfühlen mit Leidenden.

1. Bleibt fest in der brüderlichen Liebe.

2. Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.

3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.

Schauen wir uns die drei Bereiche, die der Hebräerbrief nennt, kurz an!

1. Bleibt fest in der brüderlichen Liebe.

In der Antike war Bruderliebe auf die eigene Familie bezogen, nicht auf Nachbarn oder andere Leute. In der Bibel wird die Bruderliebe über die Herkunftsfamilie hinaus erweitert auf die Liebe zu den Glaubensgeschwistern. Wie erleben wir Glaubensgeschwister? Das wäre ein reizvolles Gesprächsthema. Irgendwann käme man sicher auch an den Punkt, dass es mit Glaubensgeschwistern manchmal ähnlich viele Reibungspunkte gibt, wie zwischen Geschwistern, die sich zum Beispiel das elterliche Erbe teilen sollen. Glaubensgeschwister teilen sich ja auch eine Erbschaft. Das Bild taucht in der Bibel in verschiedenen Zusammenhängen auf. Als Heiden sind wir sind Miterben der Heiligen, also des jüdischen Volkes. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist es die Erbschaft eines Lebens in der Nähe Gottes. Gönnen wir einander dieses Erbe? Oder machen wir es einander streitig durch Rechthaberei oder Neid? Eigentlich ist das mehr als kindisch und unsinnig. Denn durch Rechthaberei fallen wir aus der geschwisterlichen Liebe heraus und verspielen das Geheimnis der Nähe Gottes. Paulus schreibt im Römerbrief: „Sind wir aber Kinder Gottes, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.“ (Röm 8, 17)

Wir brauchen die Erinnerung daran, dass wir Gottes Kinder sind, dass wir Geschwister im Glauben sind, damit wir fest bleiben in der geschwisterlichen Liebe.

2. Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.

Gäste waren in der Antike in der Regel Fremde. Hier sind wohl durchziehende Mitchristen gemeint. Vielleicht auch Wanderprediger. Es gab ja kaum Gasthäuser, geschweige denn Hotels zum Übernachten.

Im Bibelerlebnishaus in Frankfurt wird den Konfirmanden erklärt, wie im Alten Orient Gäste empfangen wurden. Der Gruß „Schalom“, Friede, war eine Rechtserklärung: Solange der Gast im Haus ist, soll Friede herrschen. Von Gästen erfuhr man die neuesten Neuigkeiten aus entfernten Orten und Ländern. Gäste wurden reichlich bewirtet und erhielten zum Abschied oft ein Geschenk mitnehmen. Ja, Gäste können unverhofft zum Segen werden, zu Boten Gottes, zu Engeln.

3. Schließlich noch der dritte Bereich: Das Mitfühlen mit Leidenden.

Auch das erfährt die Gemeinde selbst von Christus her. Laut Hebräerbrief haben wir einen Hohenpriester, der mit uns fühlen kann. Er kennt auch unsere Zweifel, Ängste und Versuchungen. Darum heißt es hier am Ende des Briefes: Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt. Jesus wurde verhaftet in der Nacht vor seiner Hinrichtung. Im Neuen Testament ist mehrfach davon die Rede, dass Apostel in ein Gefängnis kamen, bis ihnen der Prozess gemacht wurde oder werden sollte. Johannes der Täufer wurde eingekerkert. Paulus wurde in Rom unter Hausarrest gestellt, während ein Soldat an ihn gekettet war. Er konnte Besucher empfangen. Wir hören immer wieder von Christen, die wegen ihres Glaubens unterdrückt, verfolgt und eingesperrt werden. Aber auch politische Gegner, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten werden zu Unrecht verurteilt und eingesperrt. Von Folter ganz zu schweigen. Als Christen soll uns das nicht gleichgültig lassen. Wir sollen an solche Menschen denken, für sie eintreten und beten.

„Gott ist das Nahe in der Nähe.“

Das dürfen wir erfahren in der Liebe der Glaubensgeschwister.

Das dürfen wir erfahren in der Begegnung mit Gästen und Fremden.

Das dürfen wir erfahren, wenn wir mit anderen mitfühlen und ihnen beistehen und umgekehrt.

Achten wir auf Gottes Nähe, nehmen wir sie unter uns wahr!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Ferien- und Urlaubszeit mit guttuenden Erfahrungen von Nähe,

Hans Gernert