Ist die Kirche noch zu retten? - Predigt am 6.2.2022

„Ist die Kirche noch zu retten?“ So fragte am vergangenen Sonntag Anne Will in ihrer Sendung doppelsinnig. Man kann es als Aufschrei im Blick auf die katholische Kirche verstehen: Ist die Kirche noch zu retten? Unglaubliche Verbrechen wurden von der Hierarchie gedeckt bis in die oberste Etage. Der Vertrauensverlust ist enorm.

„Ist die Kirche noch zu retten?“ Das kann auch als Frage mit offenem Ausgang verstanden werden, wobei die Frage schon sehr schwarz sieht.

Wir erleben turbulente Zeiten. Als evangelische Kirche sitzen wir in gewisser Hinsicht mit der katholischen Kirche im gleichen Boot. Sexuellen Missbrauch gibt es auch – Gott sei’s geklagt – im Raum der evangelischen Kirche. Und auch da empfinden die Opfer ein zu langsames Aufarbeiten.

„Ist die Kirche noch zu retten?“ Diese Frage lässt auch mich nicht kalt. Sie bohrt sich bisweilen wie ein Stachel in mein Denken hinein.

Ich spüre das Gefühl von Ohnmacht. Da lässt sich nichts schönreden. Wo Verbrechen begangen wurden, müssen sie ans Licht. Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden. Strukturen müssen kritisch durchleuchtet werden. Präventionsmaßnahmen sind unerlässlich.

Es wird lange dauern, bis verlorenes Vertrauen zurückgewonnen wird.

Ist die Kirche noch zu retten? In der Diskussion klang an manchen Stellen an, dass es Hoffnung gibt. Es wurde auf Menschen verwiesen, die sich in ihrer Kirche für Veränderungen engagieren wollen.

Es wurde darüber gesprochen, dass sich Strukturen und Lehrinhalte in der römisch-katholischen Kirche ändern müssen. Der synodale Weg steht dafür. Hier hoffe ich auch für die Katholiken, dass der Aufbruch nicht von der Hierarchie gebremst und torpediert wird.

„Ist die Kirche noch zu retten?“ Das ist eine derzeit naheliegende Frage, es ist aber auch eine suggestive Frage, auf die es so eindeutig keine Antwort gibt.

Ich möchte die Fragestellung verändern: Hat Gott die Kirche verlassen? Geht die Kirche baden?

In Matthäus 14 wird mehrmals von Jesus erzählt, dass er weggeht. Zuerst hört Jesus vom Tod Johannes des Täufers. Da geht er weg und will allein sein für sich. Ich stelle mir vor, dass Jesus eine besondere Beziehung zu Johannes dem Täufer hatte. Er hat viel von ihm gelernt. Sein Tod geht ihm nahe. Doch ihm bleibt nicht viel Zeit für Trauer und Gebet. Die Menschen strömen herbei. Sie bringen Kranke mit. Jesus heilt sie. Als es dunkel wird, wollen die Jünger die Leute wegschicken. Doch Jesus will sie nicht hungrig gehen lassen. Er sorgt dafür, dass die große Menschenmenge zu essen bekommt. Über 5000 wurden satt und es blieb noch genug übrig.

Nach diesem Wunder schickt Jesus erst seine Jünger weg. Er drängte sie in das Boot zu steigen und abzufahren. Man kann auch übersetzen: Er zwang sie. Das hat fast etwas Gewaltsames. Will Jesus nichts mehr mit den Jüngern zu tun haben? Das wohl nicht. Er schickt sie voraus. Er selbst will wieder allein sein und sich im Gebet mit Gott verbinden. Das wollte er ja bereits nach der Mitteilung vom Tod Johannes des Täufers. Endlich Zeit haben für sich und Gott. Vorher verabschiedet er noch allein die Volksmenge. Nun ist Jesus endgültig weg - für alle.

Das ist genau die Situation nach Ostern. Jesus ist weg – aufgefahren zu Gott, seinem himmlischen Vater, eng mit ihm vereint.

Die Geschichte vom Seewandel beginnt so:

Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein.

Das Boot steht für die Gemeinschaft der Christen, für die Kirche. Erstmals sind die Jünger alleine unterwegs, ohne ihren Herrn. Jesus ist weg. Für die Jünger nicht mehr erreichbar. Hat er sie verlassen? Hat Gott die Kirche verlassen?

Jesus ist auf jeden Fall sehr weit weg. Der Abstand wird sehr deutlich hervorgehoben: Der See Genezareth liegt 212 m unter dem Meeresspiegel. Und Jesus ist auf einem Berg, hoch hinauf, ganz nah bei Gott, im Gebet mit Gott verbunden - das erinnert an Himmelfahrt. Für die Jünger ist Jesus nicht greifbar.

Ja, so geht es der Kirche immer wieder. So geht es aber auch jedem Glaubenden immer wieder. Im Leben der Kirche, aber auch im Leben jedes einzelnen gibt es diese Erfahrung der Verlassenheit. Wir haben tiefe Erfahrungen im Glauben gemacht, wir wurden satt von dem, was Jesus ausgeteilt hat, doch dann – manchmal nur kurz darauf – diese Erfahrung:

Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.

Wind und Wellen bringen das Boot und die Jünger in Seenot. Die Bilder von Sturm und Wellen und Nacht erinnern an Erfahrungen menschlicher Not. In den Psalmen wird die Not von Menschen mit solchen Bildern ausgedrückt: "Das Wasser geht mir bis an die Kehle... die Flut will mich ersäufen." (Ps 69, 2f.)

Derzeit bläst der Kirche in Deutschland ein heftiger Wind ins Gesicht. Eine dunkle Seite der Vergangenheit holt sie ein und bringt sie in große Bedrängnis. Auf sich allein gestellt wäre die Kirche wohl nicht zu retten. Auf sich allein gestellt kann auch der einzelne eine Lebens- und Glaubenskrise nicht gut bewältigen. Darum ist die Geschichte vom Seewandel eine Hoffnungsgeschichte. Sie geht so weiter:

Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!

Es fällt auf: Die Jünger erschrecken mehrfach:

Erst angesichts des Sturmes, der über sie hereinbricht.

Und dann noch über Jesus, den sie nicht erkennen.

Ihr Vertrauen ist völlig dahin. Die vierte Nachtwache ist die Zeit zwischen 3 und 6 Uhr. Da, wo man oft auch Albträume hat. Ist es Zufall, dass der frühe Morgen auch die Zeit ist, in der Jesus auferstanden ist. „Gott hilft ihr früh am Morgen“ – heißt es im Psalm 46. Am frühen Morgen erscheint Jesus auf dem See. Völlig unerwartet kommt er in die erlebte Not und spricht die Jünger an: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht! Die Jünger, die sich vom Sturm bedroht allein, verlassen und hilflos fühlten, erfahren: Wir sind doch nicht allein. Jesus ist auf andere Weise bei uns, wenn er sagt:

Ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluss der Weltzeit.

Nun folgt noch eine Szene, die nur Matthäus überliefert:

Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

Hier steht Petrus beispielhaft für alle Christen, die glauben wollen, dann aber vom Zweifel eingeholt werden. „Herr, wenn du es bist“ – schon in dieser Anrede zeigt sich eine Portion Zweifel. Andererseits wird hier Petrus auch herausgehoben von allen Jüngern. Er vermag über das Wasser hinweg zu Jesus vorzudringen. Er kommt Jesus näher als die anderen. Doch dann achtet er auf Gefahren und beginnt zu sinken. Ich finde das sehr aktuell. Wenn wir auf uns schauen und wie wir die Kirche retten könnten, dann zieht es uns nach unten. Dann geht die Kirche baden. Uns bleibt nur wie Petrus das Gebet: Herr, rette mich! In dem Augenblick, wo Petrus sich an Jesus wendet, wird er von Jesus ergriffen und gehalten. Nach dieser Rettung fragt Jesus ihn erstaunt: Warum hast du denn gezweifelt? Ja, auch unser Glaube ist immer wieder bedroht zu einem Kleinglauben zu werden. Ich schließe mich da mit ein.

Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Am Ende steigt Jesus mit Petrus ins Boot. Da legt sich der Wind. Die Situation entspannt sich. Das Vertrauen kehrt zurück. Alle nehmen die Herrlichkeit Jesu wahr, erkennen sie an und bekennen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Wir erleben derzeit fraglos stürmische Zeiten global gesehen - verlogene olympische Spiele, Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze, Pandemie und die Herausforderungen der Klimakatastrophe. Wir erleben stürmische Zeiten für die Kirche und für unseren Glauben. Untergangsängste in vieler Hinsicht. Sind wir von Gott und allen guten Geistern verlassen? Das mag so scheinen. Doch die Geschichte vom Seewandel macht mir Hoffnung, dass wir erleben werden, wie Christus zu uns ins Boot steigt. Dann legt sich der Sturm.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Ich wünsche Ihnen Gottes Segen für die neue Woche,

Hans Gernert