Leben aus der Gnade Gottes - Predigt am 6.3.2022

Es ist alte Tradition, die Predigt, die gewöhnlich von der Kanzel aus geschieht, mit dem Kanzelgruß zu beginnen. Der Kanzelgruß geht auf den Briefgruß des Apostels Paulus zurück. So beginnt unter anderem der 2. Brief an die Gemeinde in Korinth: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Hören wir bei diesem Gruß wenigstens ab und zu bewusst hin?

Gnade wird uns gewünscht. Gnade von Gott. Und Friede! Friede von Gott. Wie groß ist die Sehnsucht nach beidem in diesen Tagen.

Unser Predigttext für heute aus dem 2. Kor. 6 beginnt so:  Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Liebe Gemeinde! Das dürfen wir so verstehen, dass wir jetzt, dass wir heute die Gnade Gottes erfahren dürfen. Jeder Tag ist Gnade. Gerade angesichts verschiedenster Gefahren, die ja immer unser Leben bedrohen, können wir uns das bewusstmachen: Jeder Tag ist Gnade. Nun geht es Paulus aber um noch mehr. Gnade ist für Paulus ein theologischer Leitbegriff. Die Gnade Gottes liegt für Paulus darin begründet, dass sich Gott uns Menschen unverdientermaßen zuwendet. Gnade bedeutet, dass wir uns, ohne etwas vorweisen zu müssen, von Gott lieben lassen dürfen. Im Abendmahl dürfen wir die Hostie empfangen und darüber staunen, wie freundlich Gott zu uns ist. Wir hören es nicht nur, wir dürfen es schmecken und körperlich empfinden: Gott segnet uns, er ist uns gnädig, er schenkt uns seinen Frieden.

Wir dürfen aus der Gnade und dem Frieden Gottes leben.

Paulus fährt fort: Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten…

Paulus zählt dann eine ganze Menge von widrigen Umständen auf, die er um des Evangeliums willen auf sich nimmt und erträgt bis hin zu Verhaftung und Verfolgung und Tod: Als die Sterbenden, und siehe wir leben.

Mich erinnert diese lange Aufzählung an die Entbehrungen, die viele Menschen in der Ukraine in diesen Tagen erleben: Nahrungsmittel werden knapp, sie kommen wenig zum Schlafen, sie leben in Angst vor Bombardierungen, Angriffen, Häuserkampf, Saboteuren und einer ungewissen Zukunft. Sie demonstrieren vor den Besatzern für ihre Freiheit.

Wir leiden mit ihnen und bewundern den Mut so vieler Ukrainer, die mit einer für uns unvorstellbaren Überzeugung die Freiheit ihres Landes und ihres Lebens verteidigen. Es zerreißt einem schier das Herz bei den Nachrichten. Männer bringen ihre Frauen und Kinder in Sicherheit über die Grenze und fahren wieder zurück, um ihr Land zu verteidigen. Molotow-Cocktails werden vorbereitet. Es ist ein verzweifelter Kampf gegen eine übermächtige russische Militärmaschinerie. Mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj bangen um sein Leben. In Russland werden alle Kritiker mundtot gemacht, verfolgt und eingesperrt. Die Wahrheit wird unterdrückt.

Paulus hat als Apostel, als Verbreiter des Evangeliums, schon vieles erdulden müssen. Dabei versteht er sich als Diener Gottes, aber nicht als Glaubensheld. Für Paulus schließt die Nachfolge Jesu das Leiden mit ein. Er sagt in Kapitel 4, 10: „Allezeit tragen wir das Sterben Jesu am Leibe herum. Wir tragen den Schatz der Herrlichkeit Gottes in zerbrechlichen Gefäßen.“

Als zerbrechliches Gefäß hat sich auch Martin Luther gesehen.

Seit dem Wormser Reichstag war er vogelfrei und ständig vom Tod bedroht. Aber er war überzeugt, dass sich die Wahrheit des Evangeliums durchsetzen werde, weil Gott selbst sie verbürgt.

Durch seinen ängstlichen Auftritt vor dem Kaiser ist Luther gereift.

Er hat seine Ängste besiegt und er wurde in seinem Versteck auf der Wartburg auch geduldiger mit sich und anderen.

Heute ist der Sonntag Invocavit. An diesem Sonntag Invocavit vor 500 Jahren war Junker Jörg alias Martin Luther aus seinem Versteck in der Wartburg nach Wittenberg zurück. Dort ging es drunter und drüber. Er spürte, dass er die Deutungshoheit über die Reformation aus Wittenberg wieder zurückzuerobern musste. Er tat dies nicht mit Gewalt, sondern mit einer Reihe von Predigten. Eine Woche lang predigte er jeden Tag bis zum Folgesonntag in der Stadtkirche in Wittenberg. Als Invocavitpredigten ging diese Predigtreihe in die Geschichte ein. Was war passiert? Während der Abwesenheit Luthers nahmen Ausschreitungen gegen Kleriker zu: Priester wurden gewaltsam von den Altären vertrieben, Privatmessen wurden abgeschafft, Mönche und Nonnen verließen die Klöster, es gab erste Priesterehen. Anfang 1522 kam es zum Bildersturm. Heiligenbilder, Statuen und Altäre wurden verbrannt. Wegen der Turbulenzen verließen viele Studenten die Stadt. Es drohte mit der jungen Wittenberger Universität die institutionelle Basis wegzubrechen, die für die Entfaltung der evangelischen Theologie als Wortwissenschaft unverzichtbar war. Darum wollte Luther wieder Ruhe in die Stadt bringen, um seinen Gegnern keinen Angriffspunkt zu bieten.

Luthers Handeln war von seiner radikalen Beziehung auf Christus bestimmt. Das Evangelium habe er nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unseren Herrn Jesum Christum.

Bei den Invocavitpredigten sprach Luther die Zuhörer immer als „meine Gemeine“ oder „mein Stall“ an, in den der Teufel eingebrochen sei. Allein Christus und die göttliche Gnade machen den Menschen selig. Wer etwas gewaltsam ändert, richtet nur ein neues Gesetz auf und vernichtet die eben gewonnene evangelische Freiheit. Das macht Luther dann an jedem strittigen Thema deutlich. Bei allen Veränderungsbemühungen darf die Liebe zu den Schwachen nicht verloren gehen. Natürlich ist Luther gegen die Vorstellung, dass Messen und Opfer gute Werke wären, durch die man sich Gottes Gnade verdienen könne. Aber er will nicht Hand anlegen an die, die noch anders denken und handeln. Ähnlich behandelt er die Bilderfrage und das Schicksal von Mönchen, Nonnen und Priestern.

Aus der Verbindung mit Christus sind Paulus und Luther und vielen anderen Christen besondere Kräfte zugewachsen. Sie ließen sich durch negative Erfahrungen nicht davon abbringen, von Gott als einem gnädigen Gott zu reden, der die Menschen zur Liebe befreit und zu einem friedvollen Miteinander. Beide lehnten Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Botschaft ab. Allein durch das Wort und gute Argumente soll sich die Wahrheit des Evangeliums selbst einen Weg zu den Herzen der Menschen bahnen.

Auch wir dürfen aus der Kraft leben, die von unserem gekreuzigten und auferstandenen Herrn ausgeht. Leben wir unser kleines Leben, das Gott uns schenkt, jeden Tag in der Schule, in der Arbeit, zu Hause. Freundlich, geduldig, friedfertig, andern beistehend, in der Kraft Gottes.

Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

2. Korinther 6, 1-10:

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnet neue Woche,

Ihr Pfarrer Hans Gernert