Von Engeln und Mühlsteinen

Wer ist nun der Größte im Himmelreich? Und er rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist... Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. (Mt 18, 1-6.10

Liebe Gemeinde!
„Wer ist nun der Größte im Himmelreich?“ Diese Frage ist keine abstrakte, theoretische Frage. Sie bewegt die Menschen immer wieder. Wer ist der Größte? Historiker haben manchen Personen der Weltgeschichte den Beinamen „der Große“ verliehen. Nur eine Frau erhielt diese Beifügung: die deutschstämmige russische Zarin Katharina die Große. Herrscher werden als groß bezeichnet, wenn sie weitreichende Entscheidungen vorgenommen haben. Aber nur zu oft sind diese Großen wie Alexander oder Karl oder wie sie alle heißen Machtmenschen gewesen, die mit viel Gewalt großes Leid über andere Menschen gebracht haben.
Wer ist nun der Größte? Putin will in diesem Vergleich mithalten und stürzt ebenfalls viele Menschen in Not und Leid, in der Ukraine, in seinem Land und in vielen anderen Ländern.
Wer ist nun der Größte? Etwas weniger dramatisch zeigte sich dieses Gerangel vor der letzte Bundestagswahl zwischen Söder und Laschet.
Wer ist nun der Größte? So eine Kräftemessen erlebt man aber auch schon bei Kindern.
Am Montag ist Queen Elisabeth II. in England beigesetzt worden. Ein großer Trauermarsch zog sich durch London und Windsor. Unzählige haben Abschied genommen und die Queen schier in den Himmel gelobt. Größe wurde durch ein großes Begräbnis zum Ausdruck gebracht. In der Zeitung fand sich dann die Karikatur: Die Queen ist auf einer Wolke im Himmel zu sehen. In einigem Abstand hinter ihr ihr Gemahl Prinz Philipp, der sich denkt: „Jetzt geht das wieder los, dass ich immer eine Wolke hinter ihr schweben muss…“
Selbst Karikaturisten bewegt die Frage, wie es im Himmel weitergeht, auch wenn ihre Phantasie nicht so ernst zu nehmen ist.
Wer ist nun der Größte im Himmelreich?
Die Jünger haben öfter diese Frage verhandelt und mit Jesus darüber diskutiert.
Größe zeigt sich nach menschlichem Denken in Macht und Reichtum. Groß ist, wer das Sagen hat. Die andern müssen gehorchen.
Groß ist, wer Geld hat und sich viel leisten kann.
Im Sport ist der der Größte, der besser ist als alle anderen und am Ende als Sieger auf dem Treppchen steht.
Wieviele Fans wollen mit ihrem Verein die Größten sein?!
Wieviele Jugendliche haben ihre Stars, von deren Glanz und Größe sie auch etwas abhaben wollen?!
Groß sein wollen, das steckt in uns allen drin, zumindest verdeckt.
Kein Wunder, dass auch die Jünger so dachten: Nachfolge muss sich doch lohnen, da muss doch `was dabei herauskommen.
Was sagt Jesus dazu?
Bevor er etwas sagt, holt er ein Kind herbei und stellt es in die Mitte.
Ich stelle mir vor, wie die Spannung steigt: „Was hat Jesus da vor? Was soll das nun schon wieder? Was soll das bedeuten? Was will er denn jetzt mit diesem Kind?“ Im Zusammenhang mit der Frage, wer der Größte ist im Himmelreich, verblüfft Jesus mit dieser Handlung. Keiner der Jünger wäre auf diese Idee gekommen. Jesus stellt mit dieser überraschenden Zeichenhandlung alles auf den Kopf. Er demonstriert Größe an einem Kleinen.
Gleichzeitig stellt die damalige Sicht von Kindern auf den Kopf.
Kinder galten damals zwar als Segen, weil sie die Altersversorgung der Eltern sichern sollten. Aber Kinder galten nichts. Sie waren noch niemand. Kinder wurden nicht beachtet und hatten nichts zu melden. „Wieso holt er nun ausgerechnet ein Kind herbei und stellt es in die Mitte?“
Dann löst Jesus die Spannung, die in der Luft liegt, auf und beginnt zu reden: „Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“
Mit dieser Antwort nötigt Jesus die Jünger und uns, die Frage in einem anderen Licht zu sehen. Was ist wahre Größe? Wahre Größe hat für Jesus offensichtlich nichts mit Muskelkraft und Erfolg im Leben zu tun.
Aber was meint Jesus konkret?
Man kann ja auch unter Kindern schon beobachten, wie sie ausprobieren, wer der Stärkste und der Größte ist. Kinder können sogar sehr grausam zueinander sein, weil sie erst lernen müssen, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Die Entwicklungspsychologie hat ein viel genaueres Verständnis für Kinder zu Tage gebracht. Doch Jesus geht es meines Erachtens um etwas ganz Anderes.
Ich verstehe es so: Jesus zeigt an dem Kind worauf es ankommt.
Wie die Kinder werden – das hat mit der Fähigkeit zu tun, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Kinder können sich ganz sorglos in ein Spiel vertiefen. Es berührt auch, wie sich Kinder ganz ohne Vorbehalt einem Erwachsenen anvertrauen können. Dieses tiefe kindliche Zutrauen ist es wohl, das Jesus meint, wenn er sagt:
„Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“
Jesus macht den Erwachsenen also bewusst: Euch ist etwas abhandengekommen. Lebt doch wie die Kinder im Hier und Jetzt. Zerbrecht euch nicht den Kopf über die Frage, wer der Größte im Himmelreich ist. Bleibt bescheiden. In der Gemeinde soll es dieses Denken nicht geben, wer denn der Größte ist. Überheblichkeit schadet der Gemeinschaft. Das Gegenteil ist wichtig: die Achtung eines jeden und ein offener, vertrauensvoller und vorurteilsfreier Umgang miteinander.
Das wird deutlich aus dem Fortgang der Rede Jesu:
Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.
„Aufnehmen“ meint nicht nur, dass man Kinder ins Haus lässt. Aufnehmen geschieht durch Aufmerksamkeit und innere Zuwendung. Es hat etwas mit Ernstnehmen zu tun ohne Hintergedanken. Jesus hat immer den ganzen Menschen gesehen. Indem er sich dem einzelnen ganz zuwendet, lässt er ihm die eigene Würde spüren und stärkt seinen Selbstwert.
Und dann spricht Jesus eine deutliche Warnung aus. Wer sich an einem dieser Kleinen vergeht, wer seine Macht missbraucht, für den wäre es besser nicht zu leben. Eine klare Warnung Jesu vor Kindesmissbrauch in welcher Form auch immer. Das Wort „Kleine“ muss nicht nur die Kinder meinen. Es umfasst alle, die Schutz brauchen. Wer sich an den Kleinen vergreift, der hat Gott und die Engel Gottes gegen sich. Jesus sagt es so:
Seht zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.
Die Kleinen haben also bei Gott einen hohen Wert.
„Werden wie die Kinder.“ Im Matthäusevangelium stehen diese Worte im Zusammenhang von Fragen des Gemeindelebens. Die Frage nach dem Größten im Reich Gottes ist falsch gestellt. Im Reich Gottes kann sich niemand eine hervorgehobene Position sichern. Das Reich Gottes wird nur als Geschenk empfangen oder gar nicht. Hier weiß jeder, dass er noch lernen muss: Keiner steht über dem andern. Keiner ist im Besitz der absoluten Wahrheit. Keiner ist frei von Irrtum und Schuld. Alle können nur weitergeben, was sie selbst empfangen haben. Gott ist immer der Schenkende. Dafür gilt es, sich zu öffnen. Aus Gottes Liebe und Güte gilt es zu leben. Nicht im Gegeneinander, sondern nur im Miteinander öffnet sich uns der Himmel.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche und einen Michaelistag (29.9.) mit Vertrauen in Gottes gute Mächte,

Ihr Pfarrer Hans Gernert