Wenn Gott zum Lebensmittel wird

„Es war aber viel Gras an dem Ort!“ Manchmal fallen einem solche scheinbar nebensächlichen Sätze in einer Erzählung auf. „Es war aber viel Gras an dem Ort!“
Ohren von Landwirten hören das in diesem Jahr mit Wehmut, weil durch die Trockenheit nach dem ersten und zweiten Grasschnitt nicht viel nachgewachsen ist und die Ernte insgesamt schlechter ausfällt in diesem zu trockenen Jahr.
„Es war aber viel Gras an dem Ort!“ Der Evangelist Johannes formuliert diesen Satz nach der Aufforderung Jesu: „Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort!“ Ich stelle mir, dass Johannes hier auf Psalm 23 anspielt: „Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue.“
Was da von Gott gesagt wird, wird hier im Johannesevangelium auf Jesus übertragen. Bei Jesus werden alle satt. Wer zu Jesus kommt, wird keinen Mangel erleiden.
Waldgottesdienst. Wir sind im Freien. Wir sitzen im Grünen.
Auch dazu passt diese Nebenbemerkung: „Es war aber viel Gras an dem Ort!“
Äußerlich gesehen geht es uns gut. Oder soll ich sagen: Uns geht es noch gut? Wir wissen ja nicht, was kommt.
Wir hören von der Hungersnot in Ostafrika (Somalia, Kenia, Äthiopien), wo Millionen Tiere verendet sind und wo es wegen Dürre mehrere Jahre in Folge keine Ernte gab. Verstärkt wird die Nahrungsmittelkrise durch den Ukrainekrieg, der unvermindert mit aller Brutalität weitergeführt wird von russischer Seite. Monatelang konnte kein Getreide aus der Ukraine exportiert werden. Gespannt beobachtet die Welt, ob nun Getreideschiffe auslaufen und sicher ans Ziel kommen. Die Preise stiegen. Arme konnten sich kein Brot mehr leisten.
Die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, ist enorm angestiegen.
Hunger ist der Bibel durchgängig bekannt.
   Wenn die Bibel Speisungswunder erzählt, dann muss das auf dem Hintergrund gesehen werden, dass Armut und Hunger für die Mehrheit in der antiken Welt, auch zur Zeit Jesu und zur Zeit des Evangelisten Johannes, die normale Lebenssituation war. Machen wir uns klar: Das soziale Umfeld unserer Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung ist eine Gesellschaft, in der ein großer Teil am Rande des Existenzminimums leben musste.
In der Geschichte sagt Philippus: „Brot für 200 Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll.“ Doch offensichtlich hat weder Jesus noch sonst jemand soviel Geld bei sich, um davon Brot zu kaufen. Es ist also verständlich, wenn Philippus darauf hinweist: Wir haben nicht genug, dass jeder etwas zu essen bekäme.
Die Geschichte von der Brotvermehrung hat an Aktualität nichts verloren. Beim Evangelisten Johannes kommt ein Kind ins Spiel. Es hat zwei Gerstenbrote und zwei Fische. Wie das? Es hat mehr, als es für sich allein benötigt. Ich denke an Josef, der seinen Brüdern Essen aufs Feld bringt. Vielleicht hatte das Kind so einen Auftrag, Arbeitern draußen Essen zu bringen. Und da gerät es in die Menge, die sich um Jesus versammelt hat. Gerstenbrote waren das Brot der Armen. Als Beilage zwei getrocknete oder geräucherte Fische aus dem See Genezareth. Das Kind fängt an zu teilen! Mit dem Wenigen macht Jesus einen Anfang. Er verhält sich nun wie ein jüdischer Hausvater bei einer Mahlzeit. Er nimmt das Brot, bricht es und spricht dabei den Segen. Und am Ende des Mahles sorgt er dafür, dass die übriggebliebenen Reste wieder eingesammelt werden. Alles ist ganz auf Jesus konzentriert bis dahin, dass er selbst das Brot austeilt. Bei den anderen Evangelisten tun das die Jünger. Jesus wirkt dabei wie der himmlische Vater, der seine Hand öffnet und alles Lebendige sättigt: „Es warten alle auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit. Wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt.“ So heißt es im Psalm 104. Und auf den Bezug zu Psalm 23 habe ich bereits hingewiesen. Jesus erscheint hier als der gute Hirte, der seine Herde weidet auf einer grünen Aue.
Im Verhalten Jesu leuchtet die Menschenfreundlichkeit Gottes auf. Jesus wird als der wahre Lebensspender erfahren.
Kirchenchor: Du machst, dass ich reich bin…
Das Wunder der Brotvermehrung ist kein Luxuswunder für die ohnehin Satten. Vielmehr erfahren die Armen und Hungrigen in diesem Wunder Gottes Zuwendung und Liebe.
Eine Slumbewohnerin aus Rio de Janeiro, Brasilien, erzählt im „Tagebuch der Armut“, wie ein hungernder Mensch das Essen erleben kann: „Ich beschloss, eine mittlere Tasse Kaffee zu trinken und ein Brot zu kaufen. Bevor ich aß, sah ich den Himmel, die Bäume, die Vögel, alles gelb. Nachdem ich gegessen hatte, wurde alles vor meinen Augen normal... ich fing an, schneller zu arbeiten. Ich fing an, schneller zu gehen. Ich glaubte, im Raum zu schweben, ich fing an zu lächeln, als wohnte ich einem schönen Schauspiel bei. Und gibt es überhaupt ein schöneres Schauspiel, als zu essen zu haben? Mir schien, als äße ich zum ersten Mal in meinem Leben.“
Soweit die Erfahrung einer Hungernden. Hier ist die verdinglichende Vorstellung vom Körper, den wir haben, aufgegeben. Ich habe nicht einen Körper, sondern ich bin mein Leib. In meinem Leib ereignet sich das Wunder, dass mich das Essen leben und alles erleben lässt. Da ist das Essen nicht verkümmert zu einer bloßen Funktion, zum Fast-Food zwischendurch und nebenbei. Da wird zuinnerst erlebt, dass das Essen eine heilige Sache ist, die mir meine Menschenwürde gibt, eben die Fähigkeit zu lieben, zu lachen und die Welt als schön und geliebt zu begreifen.
Die Inderin, Jaini Bi, hat das in einem Gedicht in religiöse Begriffe zu fassen versucht. In diesem Gedicht, das 1973 während einer großen Hungersnot in Chitapur entstanden ist, heißt es:
„Jeden Tag um zwölf / in der Mittagshitze / kommt Gott zu mir / in Gestalt von 200 g Haferbrei. // Ich spüre ihn in jedem Keim / ich schmecke ihn in jedem Löffel voll, / ich halte sein Mahl mit ihm / wenn ich schlucke, / denn er hält mich am Leben mit / zweihundert Gramm Haferbrei. // Jetzt weiß ich, dass Gott mich liebt.“
Hier wird das Essen zur Gotteserfahrung. Gott wird zum Lebensmittel, zum Brot des Lebens, das den Hunger stillt. 200 g Haferbrei werden geschmeckte, geschluckte Liebe Gottes. Hier wird ernst genommen, dass wir ein Leib sind, und dass Gott uns besucht und liebt in diesem Leib. So können wir von den Hungrigen lernen, dass das Brot heilig ist. Es sollte sich daher von selbst verstehen, dass man Brot nicht gedankenlos wegwirft. Die Überproduktion und Vernichtung von Lebensmitteln in den reichen Ländern kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Wir müssen es wieder lernen, uns nicht nur vernünftiger zu ernähren, sondern in der Nahrung auch das Wunder des Lebens wahrzunehmen. Das Wunder von der Brotvermehrung lenkt unseren Blick nicht nur auf die Hungernden und auf das Wunder des alltäglichen Brotes. Es weist auch auf das Wunder der von Jesus gewirkten Gemeinschaft hin. Wunderbar geht es da zu, wo Menschen miteinander teilen. Es ist ein Wunder, dass bei aller Ratlosigkeit der Jünger ein Kind das zu teilen beginnt, was es hat.
Ein philippinischer Bauer sagte: „Bei unserer gegenwärtigen Hungersituation denken viele wie jene Leute in der Wüste: Woher können wir zu essen bekommen? ... So warten viele einfach auf Gottes Wunder, durch das die gesellschaftliche Ungleichheit beseitigt und die Hungernden gespeist werden sollten. Aber wir wissen, dass Wunder nicht einfach so kommen. Es wird kein Brot- oder Fischregen vom Himmel fallen. Vielmehr, zuallererst müssen wir herbeischaffen, was wir haben, uns so unsere 5 Brote und 2 Fische teilen... Dann werden erstaunliche Dinge geschehen.“ Mich überzeugen diese Sätze des philippinischen Bauern. Der Welthunger ist nicht in erster Linie ein Produktionsproblem, sondern ein Verteilungsproblem, das Problem von menschengemachten, ungerechten Strukturen. Und die werden durch die Gentechnik nicht beseitigt. Auf diesem Hintergrund muss uns Christen die Feier des Abendmahles neu wichtig werden: Beim Abendmahl teilen wir das Brot miteinander. Wir erfahren dabei leibhaftig Gottes Liebe, von der wir leben. Wir werden diese Liebe Gottes aber nur im Herzen bewahren und auch weitergeben, wo wir nicht alles für uns behalten, sondern das uns Gegebene mit anderen teilen. 200 Gramm Haferbrei, können zur geschmeckten Liebe Gottes werden.

Und der Friede Gottes bewahre eure Gedanken und Gefühle in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen